Fortschritt braucht Stillstand: Kameralinse mit Verschlusslamellen - managementberatung | coaching
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Organisationsentwicklung

Fortschritt braucht Stillstand – eine These

Von Sabine Walter

Wolf Lotter schreibt in seinem Prolog zum Schwerpunktthema „Pause“ der aktuellen Ausgabe der brand eins“: „Das Wort Pause hat zwei Bedeutungen, die heute in scheinbarem Widerspruch zueinander stehen. Die eine ist Rast, die andere Stillstand. Eine Rast ist eine kurze Unterbrechung eines Prozesses, der danach umso besser weitergehen soll. … Stillstand wiederum ist ein Wort, mit dem die neue Zeit noch nie so recht konnte. … Stillstand ist der Albtraum des Industrialismus,…“

Ich möchte in diesem Artikel das Thema aufgreifen und skizzieren, warum Fortschritt Stillstand benötigt und Pausen im herkömmlichen Sinne dafür nicht ausreichen.

Erfolgsfaktoren des Fortschritts

Fortschritt bezeichnet im Allgemeinen eine deutliche Verbesserung vergangener Zustände. Fortschritt ist das Ergebnis von Veränderung, auch wenn nicht jede Veränderung Fortschritt bedeutet. Damit Fortschritt geschehen kann, braucht es verschiedene Rahmenbedingungen und Kompetenzen:

  • einen Störfaktor
  • Verantwortungsbewusstsein
  • Reflektionskompetenz, also die Fähigkeit, von außen einen Zustand wertneutral zu betrachten
  • eine umfassende Wahrnehmung aus verschiedenen Perspektiven
  • Analysestärke
  • Austausch mit anderen
  • Vernetztes Denken
  • Kreativität
  • Umsetzungskompetenz

Ich habe in meiner Arbeit die Erfahrung gemacht, dass Menschen und Unternehmen oft den Fortschritt erzwingen wollen. Fortschritt soll schnell passieren. Druck wird innerlich oder von außen ausgeübt. Im besten Fall gönnen sich Menschen oder Teams dafür eine kurze Auszeit. Bei Teamtagen ist dies oft mit einer straffen Agenda gefüllt.

Doch Fortschritt passiert nicht unter Druck. Fortschritt braucht Zeit und jeden einzelnen der oben aufgeführten Erfolgsfaktoren.

Fortschritt beginnt mit einem Störfaktor

Um etwas weiterzuentwickeln und dabei zu verbessern, muss mindestens ein Mensch in der Situation oder im Prozess einen Störfaktor wahrnehmen; etwas, das zu lange dauert, zu viel kostet, zu aufwendig oder komplex ist. Etwas, das die gewünschte Qualität oder das angestrebte Ziel verfehlt. Etwas, das Schmerzen bereitet oder eigene Werte verletzt.

Diese Wahrnehmungsfähigkeit setzt voraus, dass dieser Mensch nicht vom Prozess oder der Situation komplett vereinnahmt ist; sowohl kognitiv als auch emotional. Es braucht einen offenen Blick. Es braucht einen inneren Anker und Wertekompass. Es braucht Verantwortlichkeit. Verantwortlichkeit für den Prozess und die Situation und das Vertrauen, etwas verändern zu können.

Dabei ist wichtig, dass Menschen die Geschwindigkeit des Ablaufes selbstbestimmt regeln können, um einzelne Aspekte davon bei Bedarf in „Slow Motion“ ablaufen zu lassen. Auf Output getrimmte Prozesse geben diese Möglichkeit nicht. Sie produzieren einen Tunnelblick, der die Fähigkeit zur Wahrnehmung signifikant einschränkt.

Wertneutrale Wahrnehmung von außen aus verschiedenen Perspektiven

Das individuelle Störgefühl, das beim Betrachten eines Prozesses oder einer Situation auftritt, kann seine Ursache in zwei Dingen haben – im Prozess und in der Persönlichkeit des Betrachters. Deshalb gilt es, in einem zweiten Schritt aus verschiedenen Perspektiven, also mit dem Blick der verschiedenen Stakeholder, auf den Prozess oder die Situation zu schauen. Wie erleben es andere? Was kann durch sie als störend empfunden werden? Was nicht?

Bei diesen Beobachtungen geht es darum, wertneutral Daten und Fakten zu sammeln, um diese im Anschluss mit anderen teilen, besprechen und die entscheidenden Fragen des Fortschritts ableiten zu können.

Der Austausch mit anderen: Lösungs- statt Problemfokus

Ziel des Austausches mit anderen, ist vor allem das Ableiten zukunftsgerichteter Fragen.

  • „Wie gelingt es uns …?“
  • „Wodurch schaffen wir es …?“
  • „Was braucht es, damit …?“
  • „Wie können wir …?“

Die Qualität der Fragestellung entscheidet maßgeblich mit über die Qualität der Lösung also des Fortschritts.

Vernetztes Denken und Kreativität

Durch vernetztes Denken gelingt es, Best Practices auf andere Situationen und Prozesse anzuwenden und aus mehreren Impulsen etwas Ganzes zu entwickeln. Vernetztes Denken ist ohne Transferkompetenz nicht möglich. Doch vernetztes Denken ohne Kreativität würde nur bedingt Neues entstehen lassen. Daher braucht es auch Rahmenbedingungen, die Kreativität zulassen. Dazu gehört Zeit und eine gewisse gedankliche Leere. Diese entsteht am ehesten in einem Zustand der Langeweile, also im Stillstand.

Umsetzungskompetenz

Um aus der Kreativität heraus Neues zu schaffen, braucht es Umsetzungskompetenz – eine Kompetenz, die es ermöglicht, kreative Gedanken in etwas Konkretes zu überführen. Nicht immer vereinen Menschen beide Talente in sich. Deshalb ist auch hier der Austausch und die Arbeit im Team erforderlich. Das verdeutlicht, dass Fortschritt besser in interdisziplinären und diversen Teams gelingt; in Teams, deren Mitglieder sich mit ihren Kompetenzen ergänzen und gegenseitig bereichern.

Handlungsempfehlungen für Unternehmen, um eine Kultur des Fortschritts zu etablieren

Wie gelingt es Unternehmen, eine Kultur des Fortschritts zu etablieren? Hier konkrete Handlungsempfehlungen:

  • Fördern Sie das Arbeiten und den Austausch in interdisziplinären Teams.
  • Fördern sie Job Rotation. Das sichert Ihnen einen gewissen Blick von außen.
  • Tauschen Sie sich regelmäßig mit anderen Unternehmen, Forschungseinrichtungen oder Universitäten und Hochschulen aus, um Impulse und Best Practices zu bekommen.
  • Befragen Sie Azubis, Werkstudenten oder Praktikanten regelmäßig zu Störfaktoren. Sie sind noch nicht „unternehmensblind“.
  • Verankern Sie eine Kultur des Vertrauens in Ihrem Unternehmen, um ehrliche Antworten auf Ihre Fragen zu bekommen.
  • Fordern und fördern Sie Verantwortungsübernahme durch jeden Einzelnen.
  • Schaffen Sie eine Kultur des unternehmerischen Denkens und Handelns.
  • Schaffen Sie Freiräume durch angemessene Deadlines.
  • Akzeptieren Sie ein: „Das schaffen wir nicht in der Zeit.“.
  • Fördern Sie selbstbestimmtes Arbeiten und kreative Auszeiten.
  • Leben Sie eine offene und konstruktive Feedback-Kultur.
  • Trainieren Sie das Wahrnehmen und Fragen stellen.

Zugegeben: Dies ist eine lange Liste. Wenn Sie nicht wissen, wo Sie starten sollen, holen Sie sich einen geschulten Blick von außen, der Ihnen – auch im Vergleich mit anderen Unternehmen aufzeigt – worauf Sie als Unternehmen bauen können und was noch zu entwickeln ist, um eine Kultur des Fortschritts auch bei Ihnen zu etablieren.

Fazit

Fortschritt erfordert Stillstand. Damit meine ich nicht, dass in dieser Phase des Innehaltens gar nichts passiert, sondern dass ausreichend Zeit ist, um in einen gedanklichen Leerzustand zu kommen. Ein Zustand, der frei von Raum und Zeit ermöglicht, wahrzunehmen – kognitiv und emotional – wirken zu lassen, zu verbalisieren und kreativ zu sein.

Dass sich Teams dazu einmal im Jahr Zeit dafür nehmen, ist besser als nichts. Doch eine Kultur des Fortschritts lässt sich nur wirksam etablieren, wenn der Stillstand – eingebettet in die skizzierten Rahmenbedingungen – ein permanenter Begleiter im Unternehmensalltag ist.

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