Stephanie Wackernagel
Foto | Jean-Young Kwak
10 Min.

Führung | Moderne Führungsansätze

Was ist humanistische Führung für Sie, Frau Wackernagel?

Das Interview führte Sabine Walter, Head of netzwerk managementberatung | coaching

Was ist humanistische Führung?

Bei der humanistischen Führung geht es weniger um eine spezifische Methode, die eine Führungsperson anwendet und es geht auch nicht um ein spezifisches Cluster von Verhaltensweisen. Ebenso ist es nachrangig, ob eine Führungsperson die Absicht verfolgt, einen sozialerwünschten Unternehmenszweck bzw. Output zu realisieren. Humanistisches Führen beschreibt vielmehr das Menschenverständnis, auf dessen Basis auf die Menschen im Unternehmen eingewirkt wird und die entsprechenden Führungsinstrumente gewählt werden. Das humanistische Verständnis vom Menschen geht davon aus, dass in jedem von uns die Fähigkeit angelegt ist, sich zu einer „besseren“ Version von uns selbst zu entwickeln. 

S.W.: Was bedeutet das für Unternehmen?

Werden Rahmenbedingungen geschaffen, in dem ein Mensch in seiner Arbeit z.B. Stärken, Kompetenzen sowie persönliche Interessen ausleben kann, und dies mit einer positiven Resonanz verbunden ist, wird er zu einer besseren Version seiner selbst. Das heißt:

  • Identifiziere mit den Menschen zunächst Produktivitäts- und Motivationskiller.
  • Übernimm als Unternehmensleitung persönlich die Verantwortung dafür, diese zu beseitigen.
  • Lass sie die wesentlichen Dinge mitgestalten.
  • Gib ihnen Raum, zu wachsen, denn diesen werden sie nutzen.

Unternehmen können ihre Mitarbeitenden also fragen, was sie wirklich motiviert, in welchen Situationen sie ihre Arbeit als besonders sinnvoll und freudvoll erleben, was ihre Produktivität wirklich positiv beeinflusst und in welche Bereiche der Unternehmensentwicklung sie sich einbringen möchten. Aufgabe der Unternehmensleitung ist es primär, jedes einzelne Hindernis aus dem Weg zu räumen, damit die Kolleginnen und Kollegen ihren Job einfach richtig gut und gerne machen können.

S.W.: Ich finde, das klingt machbar, zumal sich auch Ansätze davon in dem transformationalen Führungsmodell wiederfinden.

Machbar ist es. Allerdings erfordert das konsequente menschenzentrierte Führen Mut, weil sich eine Unternehmensleitung erst einmal von dem entkoppeln muss, was in unserer Gesellschaft als erfolgreich bewertet wird – finanzielles Wachstum. Das macht es für börsennotierte Unternehmen schon schwierig, so einen kulturellen Wandel zu vollziehen. 

Das Paradoxe ist Folgendes: Fragt man Unternehmen, welchen Stellwert die Gesundheit der Mitarbeitenden hat, werden nahezu alle Unternehmen diesem einen prioritären Stellenwert einräumen und Dinge wie Achtsamkeitskurse, Sport- und Massageangebote nennen. Doch all das sind von der Regelarbeit abgekoppelte Maßnahmen des Gesundheitsschutzes. Neue Arbeitsformen, die einen viel bedeutsameren Einfluss auf die Gesundheit haben, sind viel zu häufig reine Lippenbekenntnisse, die vielmehr als Marketinginstrument dienen. 

Unternehmensleitungen sind eingeladen zu hinterfragen, wie kraftvoll das Ziel „die Gesundheit der Mitarbeitenden stärken“ also wirklich im Unternehmen umgesetzt wird. Ist das Unternehmen bereit, kurz- und mittelfristig finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, um potenziell schädliche Strukturen nachhaltig und in aller Konsequenz zu verändern? Und selbst wenn die letzte Frage mit „Ja“ beantwortet wird, braucht es einen langen Atem. Denn der humanistische Führungsansatz ist bei weitem nicht konfliktfrei. Es gilt immer wieder, die Bedürfnisse der verschiedenen Individuen einer Organisation auszutarieren. Wenn jeder wachsen und sich weiterentwickeln möchte, wird es immer wieder Reibung geben, Routinen werden in der Minderheit, Veränderungen an der Tagesordnung sein. Diese Reibung produktiv zu nutzen, erfordert ein hohes Maß an persönlicher Reife, eine stark ausgeprägte Konfliktfähigkeit und eine offene und vertrauensvolle Kommunikationskultur.

S.W.: Das klingt nachvollziehbar.

Warum sollten Unternehmer sich dennoch mit diesem Führungsansatz beschäftigen?

Das ist eine berechtigte Frage. Ich empfehle Unternehmensleitungen und Führungskräften sich den ernüchternden Ergebnissen der Arbeitswissenschaften zu stellen, die seit Jahrzehnten weitestgehend ignoriert werden: Arbeit macht einen Großteil der Menschen nicht nur krank, sondern schränkt das Potential der Menschen massiv ein. Unternehmen suchen sich immer noch spezifische Aspekte einer Person aus, die sie in die Arbeit einbringen soll und vernachlässigt dabei den größeren Teil der Persönlichkeit. Das schränkt Gestaltungsmöglichkeiten und damit den Einfluss auf die Weiterentwicklung des Unternehmens sehr stark ein.

Im nächsten Schritt sind Unternehmensleitungen somit eingeladen sich damit auseinanderzusetzen, welche Produktivitätssteigerung – ganz im Sinne der Wirtschaftlichkeit – ein Unternehmen erfährt, wenn es einen gesunden Nährboden bereitstellt. Die Produktivität der Menschen steigt enorm, wenn sie eine Vielzahl ihrer Kompetenzen und Interessen umfangreich einbringen können. Rufen wir dauerhaft immer nur einen Bruchteil davon ab, verkümmern die ungenutzten Fähigkeiten nicht nur, auch die Arbeitsmotivation nimmt stetig ab. 

Ich würde Sie gerne mit auf eine gedankliche Reise nehmen: Nur mal angenommen, es gelingt einer Unternehmensleitung menschenzentriert zu führen, wodurch die Mitarbeitenden einen hohen Grad an körperlicher und psychischer Gesundheit aufweisen. Gesunde Menschen wirken in einer gesunden Weise auf ihre Umwelt ein. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen über die Produkt- und Dienstleistungsangebote sowohl auf die Gesundheit der Kundinnen und Kunden des Unternehmens positiv einwirken möchte als auch in einem gesunden Verhältnis mit der natürlichen Umwelt steht.

S.W.: Bei mir ist gerade eine Frage entstanden, die ich erst an einem Beispiel erklären möchte. Nehmen wir den Beruf der Reinigungskraft. Es gibt sicherlich Menschen, deren Erfüllung es ist, Räume sauber zu halten. Ich bin aber davon überzeugt, dass der deutlich größere Teil der Reinigungskräfte in unserem Land diese Tätigkeit macht, um irgendwie ein Auskommen zu haben und wenn sie könnten, den Beruf wechseln würden. Daher die Frage: 

Wie reif ist unsere Gesellschaft für einen solchen Führungsansatz?

Darauf habe ich keine abschließende Antwort, aber Gedanken, die ich aus der holokratischen Systemik ableite. Die Gemeinschaft eines Unternehmens könnte davon profitieren, wenn eine Person zukünftig nicht mit einer spezifischen Funktion im Unternehmen verbunden wird. Also: Es gibt nicht mehr „die Reinigungskraft“. Auch hier ein gedanklicher Ausflug: Wenn Unternehmensleitungen diesen Führungsansatz realisieren, werden sie ihre Mitarbeitenden dahin führen, weitere Stärken und Interessen an sich zu entdecken bzw. vorhandene auszubauen. Werden diese neuen Interessen und Stärken in Anwendung gebracht, führt das über kurz oder lang zum Ausbau von Kompetenzen, die irgendwann nicht mehr in eine Funktion oder einen eng bemessenen Aufgabenbereich integrierbar sind. Jetzt mag der ein oder andere sagen: „Das ist ja wie bei der klassischen Weiterbildung.“ Stimmt, nur mit einem entscheidenden Unterschied: Diesen Kompetenzzuwachs und die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit erreichen alle Arbeitskräfte im Unternehmen – unabhängig von Ausbildung oder Hierarchie. Dadurch können alle Menschen einer Organisation problemlos mehrere Rollen im Unternehmen einnehmen.

Die „Reinigungskraft“ – um bei Ihrem Beispiel zu bleiben – wird in ihrem Lerntempo dazu ermutigt, weitere Rollen ausfüllen zu können – sofern sie das möchte. Das wiederum kann mit einer höheren Verantwortungsübernahme einhergehen und damit auch zu einem höheren Gehalt beitragen – sofern Unternehmen weiterhin die Gehälter an die Grundausbildung oder einen Verantwortungsgrad koppeln wollen. Umgekehrt kann eine Person, die z. B.  im Controlling arbeitet, eine Bereicherung erleben, zwei Stunden am Tag Reinigungstätigkeiten im Unternehmen zu erledigen. Das würde dem Bewegungsbedürfnis des Körpers entgegenkommen und auch zur Erholung der mentalen Ressourcen beitragen. 

So richtig neu ist das alles nicht und immer mehr Unternehmensleitungen sind daran interessiert unproduktive Machtstrukturen aufzulösen und sinnvollere Formen von Kooperation und Miteinander im Unternehmen zu realisieren. Deshalb ja, die Gesellschaft ist reif dafür.

Vielleicht ist es aber an dieser Stelle wichtig, noch einmal abzugrenzen, was humanistische Führung nicht ist. Humanistische Führung ist keine Basisdemokratie – das ist partizipative Führung übrigens auch nicht.

S.W.: Was meinen Sie damit?

Um eine Entscheidung zu treffen, ist nicht die explizite Zustimmung aller Betroffenen erforderlich. Vielmehr geht es darum zu verstehen, bei welchen Themen sich wer gerne einbringen möchte. Denn: Viele Menschen können mit den Konsequenzen, die aus Entscheidungen anderer resultieren, sehr gut leben. Aber bei ganz spezifischen Fragestellungen wollen sie dann doch gehört werden, mitreden oder auch mitentscheiden. Wenn Führungskräfte verstanden haben, wer bzw. welche Interessensvertretende bei welchen Themen miteinbezogen werden möchten, und das in der Entscheidungsfindung berücksichtigen, steigt nicht nur die Qualität der Entscheidungen, sondern auch die Akzeptanz und Stringenz in der Umsetzung. 

S.W.: Aber sind wir in vielen Unternehmen nicht bereits an diesem Punkt?

Leider nein. Die Beteiligung der Mitarbeitenden wird weiterhin sehr eingeschränkt – vor allem wenn man die Beteiligung an strategischen Entscheidungen und damit verbundenen Veränderungen anschaut. Meine Forschung belegt allerdings, dass Neuerungen mit einem sehr viel höheren Wirkungsgrad umgesetzt werden, je intensiver die Menschen ihre Anforderungen und Interessen einbringen konnten. 

Doch der Weg dahin kann ein langer sein, denn Mitarbeitende müssen erst Vertrauen fassen, dass ihr Engagement auch tatsächlich gewollt ist. Darüber hinaus sind Abstimmungsprozesse sehr komplex und bieten eine Menge Konfliktpotential. Sich darauf einzulassen, erfordert Mut und eine Kompetenz im Moderieren von Entscheidungsprozessen. Werden diese Beteiligungsprozesse nur halbherzig geführt, geht der Schuss nach hinten los. Vertrauen wird zerstört, Engagement vernichtet. Deshalb stellt die Veränderung der Entscheidungskultur in Unternehmen eine kulturelle Transformation dar. 

Wie sollte ein Unternehmer vorgehen, der seine Organisation auf den humanistischen Führungsansatz ausrichten möchte?

Unternehmensleitungen, die das humanistische Menschbild anspricht, sind eingeladen sich selbst zunächst sehr viele Fragen ehrlich zu beantworten:

  • Welches aktuelle Menschenbild prägt meinen derzeitigen Umgang mit meinen Mitarbeitenden und beeinflusst meine Erwartungen, die ich an sie habe? 
  • Welches Grundverständnis bzw. welche Motive beeinflussen mein Verhalten? 
  • Welche höchste Priorität leitet meine weiteren Entscheidungen? 
  • Interessieren mich die Belange der Belegschaft wirklich oder möchte ich die Produktivität der Menschen vorrangig zur Steigerung des Gewinns beeinflussen? 

Die Unternehmensleitungen und Führungskräfte, auf die Letzteres zutrifft, werden wahrscheinlich nur wenig Freude daran haben, mit ihren Kolleginnen und Kollegen in einen intensiven Austausch zu gehen. Alle anderen legen fest, welchen Preis sie bereit sind, für einen Strukturwandel im Unternehmen zu zahlen. Welche kurz- oder mittelfristigen Gewinneinbußen können sie verkraften, ohne dies mit (persönlichem) Misserfolg zu verbinden?

Die dritte Phase der Vorbereitung lädt wieder zur Selbstreflexion auf einer persönlichen Ebene ein: 

  • In welchen Situationen erleben Sie Ihre Arbeit als besonders sinnvoll und freudvoll? 
  • Was beeinflusst Ihre Produktivität wirklich? 
  • Welchem Potential, das in Ihnen angelegt ist, möchten Sie zukünftig mehr Raum geben?
  • Was würden Sie einfach gerne mit den Menschen im Unternehmen erleben – auch wenn bislang breiter Konsens dafür fehlt?

Führungskräfte, die hierauf klare Antworten für sich gefunden haben, können diese Fragen nun ihren Mitarbeitenden stellen. Im nächsten Schritt identifizieren sie die drängendsten Entwicklungsbereiche im Unternehmen. Welche Interessensvertretende sollten ihre Perspektive dazu einbringen? In einem kontinuierlichen Prozess fragen Führungskräfte die Mitarbeitenden immer wieder, in welche Bereiche der Unternehmensentwicklung sie sich einbringen, an welcher Problem- oder Fragestellung sie mitarbeiten möchten. Diese Förderung der Selbstwirksamkeit und der Verantwortungsübernahme stärkt langfristig die Gesundheit von Unternehmen, ihre Wettbewerbsfähigkeit und damit auch ihren wirtschaftlichen Erfolg.

Stephanie Wackernagel studierte Psychologie sowie Industriedesign und begleitet Unternehmen bei der Implementierung neuer Arbeitsmodelle und Arbeitsinfrastrukturen. Im Rahmen ihrer Tätigkeit am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO forschte sie zum Ansatz der transformationalen Unternehmensführung. Aktuell lehrt sie an der Hochschule für Technik Stuttgart zum Thema „Führung“ und steht in einem kontinuierlichen Austausch mit Unternehmensleitungen, die das humanistische Verständnis in ihr Führungsleitbild integriert haben.

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